Den Lebensfaden aufspüren

Über das Ich, das ich am liebsten bin.
Eine Freudenbiografie.

Freude ist mehr, als ein Grund zum Lächeln.

Miriam Löffel

Selbst Menschen, die schon in der Primarschule gerne Aufsätze schrieben, geht es nicht leicht von der Hand, über die wahren Freuden ihres Daseins zu berichten. Wozu auch? Freude spürt man, sie macht lebendig – dem braucht man doch nicht schriftlich nachzugehen! Es ist ja allgemein bekannt, was einem im Leben für gewöhnlich Freude bereitet und zudem will jeder etwas Inniges für sich behalten; oder geht es Ihnen anders?

Nehmen wir Mirka als Beispiel. Sie würde kaum jemandem davon erzählen, was sie bislang wirklich glücklich gemacht hat und auch möchte wohl kaum jemand ihren langen inneren Pfaden folgen, wenn sie sich über diese Dimensionen ausbreitet. Aber ich, ich werde ihnen verraten, wie es ihr geht, wenn sie leise für sich sein kann und Kraft aus ihren Erfahrungen schöpft. Sie ist kein Kind mehr, die Zeit spielt keine Rolle mehr; in ihr ist alles gleichzeitig vorhanden, wenn sie erzählt:

„Zeit für die Freuden meines Lebens“; Arbeitsblatt Nr. 16

«Das ‹Ich›, dass ich am liebsten bin, ist an meinem Schreibtisch anzutreffen. Genauer: An meinem Denktisch, irgendwo zwischen dem Blatt Papier, das ich dem Computer vorziehe und den inneren Bildern, Fragen, Erinnerungen und Empfindungen, die unsichtbar etwas entfalten, wofür ich nach Worten suche. Die linke untere Ecke des Blatts zeigt auf meine Körpermitte, ragt sogar über die Tischkante hinaus, berührt mich beinahe und verweist somit ganz offensichtlich auf die Verbindung zwischen uns.

Falls Sie für das Besondere dieser Schreibtischsituation kein Verständnis haben» – wendet sich Mirka in der Vorstellung an imaginäre Zuschauer –, «denken Sie bitte daran, dass ich mir meine Persönlichkeit nicht in einem Katalog ausgesucht habe und nichts dafür kann, was mich erfreut und was nicht. Hätte ich diesbezüglich eine Wahl gehabt, wäre ich in der Lage (statt mich an Texten zu versuchen) mich an einem Klavier auszudrücken. So unmittelbar andere berühren, wie nur Musik es vermag. Nein, ich glaube nicht daran, dass ‹Am Anfang das Wort war. An meinem Anfang jedenfalls nicht. In meinem Leben war das Wort erst am Schluss; und es war harte Arbeit, aber dazu komme ich noch. Vielleicht war am Anfang das Klavier. Immer wieder neue Abfolgen von Klängen – so würde ich am liebsten erforschen, wie ich über dieses oder jenes fühle. Aber ich kann nicht, was ich können möchte und begnüge mich mit dem, was mir zuteilwurde: die Sehnsucht danach, ‹mit Worten herauszufinden, was ich denke und wie es mir geht. Mit dieser Metapher beschreiben einige Textarbeiter eben das, was sie eigentlich tun.

Woher diese Art Antrieb – denn Freude wirkt schliesslich als Antrieb – in mir stammt, kann ich nicht abschliessend beantworten. Auf jeden Fall versichere ich Ihnen: In dieser Art von Sein kommt die ganze Welt vor. Oder das ganze eigene Leben, wenn Sie es so wollen, plus ein wenig Ausgedachtes. Die Wahl, welcher Notiz ich mich zuwende, trifft mein Autopilot und wohin es mich führt, überrascht mich regelmässig selbst – in der Tat. Spass, Zweifel, Lust und Wut begegnen mir im inneren Universum. Ich kann mich selbst zu Tränen rühren, mich verachten, mir Schuldgefühle einreden oder mir jemanden zum Lieben ausdenken und in seinem unmoralischen Angebot aufgehen. Auf diese Art leiste ich mir selbst Gesellschaft. Aber denken Sie ja nicht, dies wäre ein Safe Space! Selbstbezogen, ja, aber kein Schutz für das eigene Ego. In diesem Raum werden allerlei Aussagen gemacht, nichts mit toleranter Kultur; ich bin hier schliesslich nicht zum Aufzählen der schönen Erlebnisse, sondern um die Bedeutungen des Lebens zu benennen, in diesem Falle des meinen.

Was in diesen Sphären unwiderstehlich ist, ist die Verlockung zum Abschweifen. Dieser darf ich erliegen, wie zum Beispiel jetzt. Einfach so dem Universum die Zeit für eigene Gedanken abknöpfen! Zum Beispiel über die allerschönsten Momente des puren Menschseins: Ich bin neun, dann zehn, dann elf und stehe immer wieder vor einer Betonwand auf einem Stück Asphalt; rechts ist ein Geländer, auf dem oft andere Kinder sitzen. Ich richte meinen Blick auf die Flugbahn eines kleinen gräulichen Balls, er prallt auf die Betonwand und wieder von ihr ab, fliegt zu mir, sinkt zu Boden und bevor er wieder abspringt, bereite ich mich vor: Ich stelle mich hin, drehe ab, in die Knie. Er steigt, ich hole aus – meine Vorbereitung geht in den Schlag über, ich treffe ihn mit einem Holzschläger in der Höhe, in der er getroffen werden soll. Geschmeidig, harmonisch, den ganzen Oberkörper mit Spannung einsetzend, kraftvoll, danach den Ellbogen durchdrückend. Der Ball prallt wieder auf die Wand, oberhalb der markierten Linie, und fliegt zu mir zurück. Es ist ein Verhältnis wie kein anderes. Die Wand ist für mich da, erwidert alle meine Bälle in einem Winkel, der von meinem Schlag abhängig ist – sie ist mein Gegenüber. Wir sind eine aufrichtige Einheit ohne Kompromisse; auf die Wand ist Verlass. Der Trainer hat uns Kindern gesagt, dass er uns, wenn der Ball zwanzig Mal nacheinander zu einem zurückkommt, auf den grossen roten Sandplatz mitnimmt. Beim mir war es nach zwei Jahren so weit. Den ersten Sommer lang verlor ich stets zugunsten der Wand, ich verlor gegen mich selbst.

Nun stehe ich auf einer Seite des Spielfelds, vor mir keine Wand, sondern ein Netz und jemand auf der anderen Seite, ziemlich weit entfernt. Ich spiele ihm zu, der Ball kommt auf meine Seite zurück. Man hat mehr Zeit als an der Wand. Doch bald kommt der Ball härter zurück als er reingeworfen wurde. Und nicht mehr an den Ort, an dem ich stehe. Auf der anderen Grundlinie steht ein Gegner. Ein anderer, der seine Bälle an der Wand auch unter Kontrolle hat, retourniert meine Schläge nach eigenem Intuitions-Algorithmus, ich renne hin und her; der andere selbst spielt eine Rolle und zählt seine Punkte. Es kommt mir vor, als würden wir das gleiche Spiel spielen, aber jeder aus einem anderen Grund. Ist der Ball weg von mir, habe ich keinen Einfluss mehr. Die hellen Filzkörper kommen zurück wie Strahlen, die mir die Welt reflektieren – ich liebe die Returns. Nicht nur nach dem Aufschlag, jeder Ball auf meiner Seite ist eine Reaktion und eine Frage zugleich, ich darf meine Antwort formulieren. Jeder Schlag, mit dem ich weiter im Spiel bleibe, ist Freude pur – ohne an den Spielstand zu denken. Die Vorbereitung, der Kontakt, alle meine Abläufe, Genuss auf meiner Seite. Der Körper lächelt im Inneren, hat sich beim Abschlag unvergleichbar selbst gespürt – es gibt mich! Kurz, aber nicht flüchtig. Die Welt hat mich berührt und was und wie ich es tue, das ist gerade die wichtigste Frage auf der anderen Seite. Die Spannung auf den nächsten Ball steigt, die Neugier – was macht meine Partnerin? Wo fällt die Antwort hin? In welche Richtung rennen? Mein Ball wurde zu ihrem, jetzt ist er in meinem Feld zurück. Diese Resonanz erkenne ich heute als die erste wahre Freude meines Lebens. Tausendfach gefühlt, nie über den Ablauf nachgedacht, nie jemandem von diesen Wahrnehmungen erzählt, nur die Tennistasche nach der Schule mitnehmen und hingehen. Diese Leidenschaft und Lust am Spiel bedeuteten an jedem zweiten Nachmittag meiner Jugend das Glück.»

Wenn Mirka heute über sich selbst schreibt, wird ihr klar, dass sie ständig darauf wartet, einen reingeworfenen Ball wieder zurückgespielt zu bekommen, um ihn zu meistern. Von mir zu dir und wieder zurück. Die Returns haben sie süchtig gemacht. Sie selbst kann nicht entwirren, was zuerst da war – die Freude am Spiel oder die Sehnsucht nach Antworten? Sicher ist, dass einem auf dem Spielfeld des Lebens die Bälle oft völlig unberechenbar entweder um die Ohren fliegen oder unter die Füsse knallen und auch die Spielregeln ändern sich ständig. Oder man bekommt ausserhalb des Courts einen präzis platzierten Ball gar nicht mehr zurück, und dies ohne dabei selbst zu punkten. Er verschwindet irgendwo. Schiedsrichter gibt es nicht. Ein Leben ohne Antworten ist schmerzhaft. Und Mirka, die spielt schon ewig ihr Match auf diesem richtig harten Belag. Ist sie eigentlich noch im Spiel? Ein Ehepartner, der mit einem nicht spricht – da wäre eine Betonwand ein Kinderspiel!

Aber zu welchen Freuden kann sie, kann ich abschweifen, wenn meine Bälle ins Abseits geraten? Und wie fühlt sich Freude eigentlich an? Bei mir auf jeden Fall so, wie es schon jemand anders ausgedrückt hat: ‹Wie ein inneres Feuerwerk›. Genau so. Zack, bum, uau, farbig, laut und ein wunderschöner Schmetterling fliegt ins Freie hinaus. Diesem schaut man strahlend nach, doch er bleibt nicht lange sichtbar. ‹Ins Freie› eben. So kenne ich Freude. Unmittelbar, berauschend, vergänglich. Und darin sucht man keinen Sinn. Das ist etwas anderes als das sogenannte Glück. Freude grenze ich vom Glück ab. Glücklich bin ich, wenn ich über das Schöne, das Gute und über das Wertvolle in meinem Leben nachdenke. Kinder, Familie, das Lernen (manchmal an der ersten Stelle), die Menschen, in denen ich mich wiederfand, die Umstände, in die man hineingeboren wurde und ganz besonders Českoslovenko – so heisst meine Heimat in der Sprache, die mir nicht fremd ist. Die Güte, die ich erfahren durfte, die bleibt für immer in diesem Land. Wie bezeichnend, dass es nicht mehr existiert. Glück ist ganz nah an Dankbarkeit. Bei Freude hingegen muss man sich nichts vor das innere Auge führen, sie überrascht einen und knallt einfach.

Mein achtjähriger Sohn liegt neben mir auf der Couch und sinniert über die Geburtstagseinladung seines Freundes:

«Ich glaube, ich bin erwachsen geworden».
«Du glaubst, du bist erwachsen geworden»
, wiederhole ich neugierig, ein wenig ein Lächeln unterdrückend.
«Ja. Ich habe Ivo gestern Lösli für die Lotterie geschenkt. Seine Mutter sagt, das sei Geldverschwendung, aber ich habe ihm am Kiosk für 20 Franken ein Päckli mit verschiedenen gekauft. Er war völlig aus dem Häuschen, als er sie rubbelte.»

«Und darum bist du erwachsen geworden?»
«Ja, ich bin jetzt so wie du.»
«So wie ich.»

«Du hast mir auch schon etwas geschenkt und dabei gesagt, dass du dich für mich freust! Ich habe das ü-ber-haupt nicht verstanden. Wie kann ‹die› sich freuen, dass ich das Lego bekomme, das ich wollte? Darüber habe ich nachgedacht. Das ist doch gar nicht für sie, sondern für mich. Häää?»
… (wenn das ein Drehbuch wäre, würde hier ‹eine längere Pause› stehen)
«Das ist wunderbar, dass Du so bist», sagte ich zum Schluss. Das innere Feuerwerk wollte ich mir nicht anmerken lassen; ein paar Tränen habe ich mir jedoch abgewischt. Wollte nicht, dass er so schnell «erwachsen» wird.

Ich tanze Line Dance inmitten von etwa hundert Tänzern und da kommt der Moment, in dem sich am Ende alle gleichzeitig schwungvoll nach links drehen, stoppen und mit der Hacke der Boots auf den Holzboden knallen. Das war auch ein «Moment des puren Glücks», erzähle ich davon immer wieder. Ähnlich wie Alleinsein mit einem guten Buch. Freude und Glück sind für mich nicht das Gleiche, aber manchmal gleichzeitig spürbar. Das sind die Momente, für die das Leben dazwischen sich lohnt.

Mirka ist lebendig, wenn sie eine Antwort erhält. Und ein zurückgespielter Ball des Lebens, mit dem man nicht mehr gerechnet hat – diese Freude ist was Besonderes. Wie so manche Begegnungen nach langer Zeit – mit Eltern, Kindern, früheren Freunden, Lehrern. Man sieht sich wieder und freut sich. Ein «Wieder», das nicht selbstverständlich ist. Eigentlich sollte man immer – in jeder Beziehung – viel Tennis spielen. So spielte Mirka nach den Jugendjahren weiter entschlossen auf dem Familienbelag. Sie wurde diejenige, die allen mehr Verbindung schenkte – nicht mit Bällen, sondern mit Worten. Worte, Sprache die fehlte. Über- und zwischeneinander und nicht auf dem Schreibtisch – früher eine Unmöglichkeit, die viel Unliebe hinterliess.

Worte als Liebe, Sprache als Halt
alles ist Freude, was Urwunden heilt.

Das Match ihres Lebens ist ihr also geglückt. Neulich nahm sie sich sogar vor, all diese Freude als ihre persönliche Ultra-Short-Story (von Hemingway beeinflusst) in nur sechs Worte zu packen. Mirka liest sie und freut sich:

«Sie fand ihre Sprache – ihren Anschluss.»

2021

 


Eintauchen in die eigene Erfahrung

Thema: Freudenbiografie
Textsorte: Aufsatz

Während man erlebt, kann man davon nicht erzählen. Dies ist erst im Rückblick möglich. Richten Sie nun Ihren Blick auf die Erlebnisse, die Ihnen immer noch ein Lächeln ins Gesicht malen. Was blieb Ihnen als Freude in Erinnerung? Und wie haben Sie diese erlebt?

  • Schreiben Sie auf ein Blatt die Freuden Ihres Lebens auf, die Ihnen einfallen.
  • Erkennen Sie darin einen Zusammenhang?
  • Was sagt dieser Rückblick über Sie aus?

Hier schreibt Miriam Löffel

Dem Einzelnen zugewandt, der Zivilisation eher fern. Ich bin eine Frau mit Eigenschaften und mag es, wenn Menschen ein Lächeln erwidern - ich tue es auch. Die Wahrnehmung für das "Unwichtige" führte mich zum Studium der Geisteswissenschaften; meine Hingabe galt ausserdem lange Zeit auch meinen Söhnen. Die Zerrissenheit zwischen den eigenen Leidenschaften ist das Hauptmotiv meines Lebensfadens. Meine Lebensthemen sind Familie, Rückzug, Worte hinter der Fassade und die Suche nach Verbindung. Das Luxusgut schlechthin ist Stille. Heute orientiere ich mich immer mehr an eigener Erfahrung und bin überzeugt, dass Kleider machen Leute – nicht. Privat und beruflich suche ich nach echten Begegnungen mit echten Menschen. Ich denke, dass Zuwendung und Zuhören die Welt des Einzelnen besser machen, vor allem indem man seine Wertvorstellungen akzeptiert. Ich bin ein psychologisch gebildeter Laie und Biografiearbeit erfüllt mich mit Sinnhaftigkeit. Bin kein Gutmensch, versuche jedoch gut zu sein.