Das Selbst erkennen

Und ich beneide doch!

Ich wollte, dass er schuld daran war, aber das war er nicht. Ich war wütend. Er hat, was ich will.

Kathryn Chetkovich

Bis heute morgen 10 Uhr war für mich klar, dass ich noch nie neidisch war. Worauf auch? Auf Autos? Gelungene Kinder? Häuser? Kleider? Kein Stich im Herzen war je spürbar beim Anblick dessen, dass andere etwas haben, oder etwas können. Und da bin ich ganz ehrlich.

Doch die Julia erzählt, Ihr Chef war einst auf ihre Beförderung neidisch und schaffte es sogar, es ihr zu sagen! Ob es theatralisch klingt? Ich überlege und da ist er: der nie gespürte Stich irgendwo in der Herzregion, auf jeden Fall in dem Raum, in dem ich als Dolmetscher sitze und – so war es jedes Mal – insgeheim die Tatsache geniesse, dass sich die Menschen in diesem Raum nicht verständigen könnten, wenn ich nicht da wäre. Zum Beispiel ein Einbrecher im Stadium der Anhörung, drei Polizisten unterschiedlichen Dienstgrades; weiss nicht wer höher ist. Und Ich. In weisser Bluse, steif, beobachte ich und höre zu. Was die eine Seite sagt, wiederhole ich in die andere Richtung, einfach in einer anderen Sprache. Keine Arbeit, mit einem Ohr rein, mit dem Mund raus, super bezahlt.

«Bitte, versuchen Sie mit ihm so zu reden, dass er die Androhung mit Suizid nicht wiederholt» – wendet sich ein Beamter an mich. Wohlwissend, dass ich nur übersetzen darf und zwar wortwörtlich. Dennoch ist eine leichte Manipulation erwünscht. Aber der Mensch wiederholt, dass er sich umbringen möchte und ein Psychiater ist auf dem Plan. Es dauert schon 5 Stunden, berechne im Inneren meinen Lohn, bedauere die Steuerzahler – ja, zwischendurch braucht man Ersatzgedanken, man muss in solchen Situationen schliesslich oft warten.

Der Psychiater trifft ein, spricht mit dem Verdächtigen, ich wieder rein und raus, Deutsch-Slowakisch-Deutsch. Als wir fertig waren, kam der Arzt auf mich zu und sagte, wie er es bewundert, dass ich so fliessend und scheinbar mühelos von einer Sprache in die andere wechseln kann. Ich bedanke mich und bin bemüht, dass er es mir nicht anmerkt: Dass ich ein Mensch bin, der nichts zu sagen hat und deshalb nur die Worte anderer überträgt. Dass die anderen die Fragen stellen, dass die anderen für die Bedeutung zuständig sind.

Diese Empfindung war Neid. Und das blieb mir bis heute verborgen. Der Neid auf den Arzt, der die Fragen stellen darf; noch schmerzlicher: der die Fragen zu stellen weiss. Ich konnte nicht entziffern, was für einem Schema er folgt, warum er so vorgeht wie er vorgeht, aber ich hätte es so gerne selbst gekonnt. Mit dem Verzweifelten so zu reden, dass sich dieser beruhigt. Mir wurde klar, dass alle Worte der Sprachen die ich kenne, hier nichts genützt hätten.

Heute weiss ich: Ich sehnte mich nach psychologischem Wissen. Dort zog es mich schon früher hin, aber nicht früh genug, damit ich es ab dem Gymnasium hätte verfolgen können. Die einzige Psychologin, von der ich in meinem Umfeld gehört hatte, betreute Babys im Kinderheim und die Psychiater arbeiteten in einer nahegelegenen Antialkoholiker-Anstalt. Beide Berufe übten keinen Reiz auf mich.

Und selbst wenn ein psychologischer Beruf meinerseits erwünscht und die Studienplätze frei wären, käme es für mich nicht infrage und das ist hier entscheidend: Hierzu fehlte mir jegliche Persönlichkeitsreife. Damit meine ich Gespür für mich selbst und die damit verbundenen Fähigkeiten. Mehr als 15 Jahre Bulimie betonierten alles zu, was man hätte entflechten und daran wachsen können. Dies erst heute zu wissen ist für mich ein Paradox, weil ich früher dachte, dass ich seit meiner Geburt ein Analytiker war. Und dieses Selbstbild trügt mich auch nicht ganz. Ich war ein Kind ohne Eigenschaften, dafür ständig am Entschlüsseln was um mich vor sich geht, was erwünscht ist, wie geht es ihm, ist er verärgert, warum, was soll ich tun, was darf man sagen und wem, wie soll ich sein.

Das war einer meiner Pfade bis hierher. Ich bin fünfzig und sitze, endlich, in einer Klasse mit psychologischem Lehrstoff. Hier bin ich gerne und vor allem ganz. 

Dieser Aufsatz entstand in einem Lebensfaden-Schreibkurs.
Die Autorin ist der Redaktion bekannt.


Eintauchen in die eigene Erfahrung

Thema: Reflexion über negative Gefühle
Textsorte: Aufsatz

Unrühmlichen Empfindungen nachzugehen ist unbequem. Über negative Gefühle in sich selbst zu schreiben, ist eine Herausforderung. Weil wir sie am liebsten gar nicht wahr haben wollen. So ist auch die Entdeckung des Neids in sich nicht angenehm. Wenn wir diese Emotion schreibend erkunden, verstehen wir uns besser und der Schmerz nimmt ab.

  • Haben Sie schon Neid oder Schadenfreude verspürt?
  • Haben Sie es schon mal versucht, Ihre Neidgefühle zu hinterfragen?
  • Kennen Sie Eifersucht? Das Gefühl, jemand würde Ihnen etwas nehmen, was Ihnen gehört?

Hier schreibt Lebensfaden Kursteilnehmer

Meine Biografiearbeit ist als Dialog auf Gefühlshöhe mündlich oder schriftlich, während Präsenzveranstaltungen oder online – immer persönlich. In meinen Kursen oder im individuellen Begleitrahmen entstehen häufig auch Texte. In ihnen zeigen Menschen buchstäblich, was in ihnen steckt - Geschichten, Konflikte, Gefühle, Werte, ihre Persönlichkeit. Wir schreiben ohne Selbstzensur, mit den Worten, die einem selbst zugänglich sind. Das nenne ich Ausdrucksschreiben, denn es macht das Eigentliche sichtbar. Wer Interesse hat, kann einen Aufsatz oder ein Gedicht hier publizieren.