Den Lebensfaden aufspüren

Meine Lesebiografie

Ich vergesse vor allem die Bücher, die ich besonders geliebt habe. Ich bewahre davon einen Eindruck, ein Gefühl.

Elena Ferrante

Die Gesamtlektüre meines Lebens im Rückblick zu betrachten war nicht meine Idee. Was soll das bringen? Vor der Aufgabe stand ich im Rahmen meiner Ausbildung, also habe ich mir zunächst eine Liste der Bücher angelegt, die ich gelesen habe. Ich war enttäuscht von meinem Gedächtnis, weil es ziemlich lange dauerte, bis ich die ersten vierzig zusammen hatte. Als ich mir dann die Inhalte der allerbesten von Ihnen, wie zum Beispiel von Meister und Margarita von Bulgakow vergegenwärtigen wollte, war ich regelrecht entsetzt. Da war nur ein Dunst aus Bewunderung und Demut, die Grundzüge der Erzählstruktur und eine schwarz-weisse Erinnerung an eine geheimnisvolle Frau wie auch einpaar unwesentliche Details über St. Petersburg. Oder was es Moskau? An das Grosse und Ganze erinnere ich mich gar nicht mehr. Deutlich hingegen meldeten sich Bilder und Gedanken an jemanden, mit dem ich über die Inhalte ausgiebig sprach und leise kritzelte mich meine Lebendigkeit der zwei Wochen wieder, die ich mit dem Buch vor Jahren verbrachte.

Wie erleichtert war ich, als ich auf das Zitat von Elena Ferrante gestossen bin! Einer ganz grossen Autorin geht es genauso und sie gibt es zu. Dank Ihrer Bekenntnis tut mein Versagen mir selbst gegenüber wesentlich weniger weh. Ich löste mich von der Suche danach ‚wie ging die Geschichte eigentlich‘ und versuchte einen Zusammenhang zwischen den gelesenen Titeln meiner ersten fünfzig Jahre aufzuspüren. Das Ergebnis überraschte mich.

Vorschulalter keine Leseförderung im Elternhaus.

An die Geschichten und Bücher der frühen 70-Jahre kann sich die kleine Mirka nicht erinnern. Sie hat keine bewusst ins Erwachsenenalter hinübergebracht. Erst die an die Mutter gerichtete bitte, sich für mich zu erinnern, lies die Bilderbuchcover, die Namen der Helden und zum Teil die Inhalte vor dem geistigen Auge beleben. Meine Mutter behauptet, im Jahr 2021, dass ich alles, was man mir anhand von Bilderbüchern erzählt hatte, auswendig lernte. Längeren Erzählungen und Märchen begegnete ich ihrer Erzählung nach erst dann, als ich in der Schule zu lesen gelernt habe. 

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir jemand vorgelesen hätte. Das passt ins Klischee, denn ich bin ein Lehrerkind und vermutlich waren beide Eltern stets müde von der Betreuung anderer Schüler und Studenten, sodass für uns, die Kinder zu Hause, keine Energie blieb. Auch hatten sie, übrigens, keinerlei Ehrgeiz, mir etwas früher beizubringen wie etwa eine Fremdsprache. Das Lernen war bis zum siebzehnten Lebensjahr ausschliesslich meine Sache – ich könnte sagen, dass sie mir in dieser Hinsicht voll vertrauten, aber es fühlt sich eher so an, dass ich mir selbst überlassen wurde.

Ich kann lesen – Begegnung mit neuen Weisheiten.

Dass ich in der Schule zu lesen lernte, war privat nirgends ein Thema und somit nichts besonderes. Als ich schon die ersten Worte lesen konnte, ist mir ein Satz aus sehr grossen roten Buchstaben aufgefallen. Sie waren im Gang zum Pausenplatz auf der Wand angebracht und unmöglich zu übersehen. Dort stand dieser Zitat von Maxim Gorki:

„Alles Gute in mir verdanke ich den Büchern.“

Das gab mir zu denken: Ich wusste, dass man nicht stehlen darf – von meinem Vater. Dass ich die Erwachsenen höflich grüssen muss, das kam von der Mutter. Die Aufforderung „Pokoj a bratská láska nech je medzi nami“ – „Liebe und Brüderlichkeit soll zwischen uns herrschen“ kannte ich aus der Kirche. Und das ist etwas Gutes. Nur durfte ich niemandem sagen, dass mich meine Grossmutter in die Kirche mitnimmt, aber das ist eine andere Geschichte. Egal, ich weiss es jetzt und frage mich: Wieso heisst es dort auf der Wand, dass alles Gute in mir aus den Büchern kommt? Mir wurde klar: Da stimmt etwas nicht. Und zwar gröber. Statt kindlicher Bücherlust misstrauisches Hinterfragen.

1977, 1. Klasse. Hinter mir die Landkarte der Tschechoslowakei.

Vier Jahre lang ging ich an diesem Slogan vorbei und ahnte nicht, dass es einen Grund dafür gibt, dass die Buchstaben ausgerechnet rot sind. Ich prüfte aber die Bedeutung der Worte oft in Gedanken auf dem Schulweg. In den Kinderbüchern, die ich damals las – wie Rotkäppchen, Schneewitchen, Slowakische Nationalmärchen oder Ferdo die Ameise – suchte ich dann nach dem, was nach dem aktuellen Buch in mir gut, beziehungsweise besser sein sollte. An einen verlässlichen Befund erinnere ich mich nicht, aber Maxim Gorkij war Russe. Und ich wusste, dass wir es in der Schule schätzen müssen, wenn ein russischer Schriftsteller etwas gesagt hatte und ich traute mich nicht, jemanden mit diesem für mich ziemlich ernsthaften Problem anzusprechen. 

Nur in der Geschichte Von den 12 Monden, die ich mehrfach gelesen hatte, verspürte ich zum ersten Mal Mitgefühl, ja, ich wollte jemandem helfen. An diese Regung erinnere ich mich gut. Eines Tages schenkte mir Mein Vater ein schwarzes Buch von James Fenimore Cooper – den Titel weiss ich nicht mehr – Die Prärie oder Der Pfadfinder. Es hat ihm viel bedeutet, er kannte es und ich fühlte mich sehr verpflichtet, habe es jedoch nie gelesen. Hatte deswegen schlechtes Gewissen, aber bei den Indianern kam ich nicht über die ersten Seiten hinaus. Es bedrückte mich, weil wenn ich ein Junge wäre, hätte ich bestimmt Freude daran und Vater an mir. Da ist für mich, aus heutiger Sicht, ein Bruch zu erkennen, der über meine Lesebiografie hinausgeht.

Das las ich als Schülerin

Ab der Oberstufe waren nicht nur die Bücher an sich die Erweiterung meiner Kenntnisse, sondern auch das, was ich über diese Bücher zu denken hatte. Den das wurde uns in der Schule ebenfalls vorgegeben. Bei allen Gedichten und Büchern, über die wir Aufsätze schrieben. Jedes Jahr eine Liste mir Pflichtliteratur, in der nur fleissige, aufopferungsvolle Menschen vorkamen, die für die anderen alle ihre Kraft auf dem Feld oder in einer Fabrik aufgewendet hatten; Leute die glücklich waren, wenn sie andere oder ihr Land vorwärts gebracht hatten. Und allesamt sehr bescheiden und gütig – die Prototypen waren Timur und seine Trupp von Arkadi Gaidar. Das Verhalten und Empfinden, das hier geschildert wurde, war weder auf dem Schulweg, noch zu Hause oder sonst wo in meiner Welt anzutreffen. 

Interessanter wurde es dafür zu Hause. In einer an sich langweiligen Welt so gut wie ohne Medien, war die Bibliothek meiner Eltern der Ort, an dem ich auch andersartige Bücher fand. Sie bekamen die meisten von ihnen geschenkt, lasen sie jedoch nicht und es blieb lange unter dem Radar, dass ich es tue. Bis mich meine Lehrerin in der siebten Klasse erwischte, wie ich während des Unterrichts unter der Bank heimlich lese. Es war der Pappillon von Henri Charrière. Meine Eltern mussten in die Schule, die Aufregung war ziemlich gross, von wegen Gefängnisverhältnisse und Anklage Französischer Justiz nichts für ein 13-Jähriges Mädchen seien. Die Eltern störte es aber nicht. Ausserdem nahm ich regelmässig Teil am schulischen Rezitierwettbewerb, wo ich am liebsten Prosa vorgetragen habe. Ich liebte das auswendig lernen von Texten meiner Wahl.

Jugend – von jetzt an wird es intim

Als ich mit 14 Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir entdeckte, begann mein Doppelleben. Die Bücher sind sinnlich! Davon durfte man nichts erzählen, selbst wenn die zwei Bänder in der Stube meiner Eltern im Regal waren. Die Literatur wurde etwas intimes, nur für mich und irgendwie kam ich darin auch vor. Dann kam Salingers Der Fänger im Roggen. Es war das Kultbuch meiner Jugend und es verbindet mich für immer mit meiner ersten Liebe. Wir redeten viel darüber wie auch über andere Romane und überhaupt prägte diese Beziehung meine Hingabe zur Literatur. Weiter las ich Geschichten aus dem Ärztemilieu – ich bewunderte Menschen, die das Leben retten können. Ab dieser Zeit führte ich bewusst ein Doppelleben – in der Aussenwelt für die Eltern und ein etwas anderes beim Lesen, im Einklang mit meinen Vorlieben und Impulsen. 

Unerwartete Vorleser-Karriere 

Innerlich darauf vorbereitet, dass ich als Mutter mit Kind weniger Zeit zum Lesen haben würde, kam eine tolle Überraschung. Die Sitte, einem Baby zur Geburt ein Buch zu schenken, erwies sich in der Schweiz ebenfalls als üblich und so kamen die ersten Kinderbücher in unsere junge Familie. Viele waren auf Deutsch und das war für mich eine gute Übung nach dem Erwerb der ersten Sprachkenntnisse.

Mit 25 tauchte ich also in Geschichten ein, die nicht nur meinen Sohn, später zwei, aufheiterten, sondern auch mich. Abend für Abend las ich Papa Moll und Globi Geschichten vor. Die sind Versform und wir machten uns einen Riesenspass daraus, das letzte Wort einer Strophe beim Vorlesen nicht auszusprechen – bis die beiden es erraten haben. Hier ein Beispiel aus Globis Weltreise:

Heut' kommt Globi keck und munter
An den Bärensee hinunter,
Einer Landschaft voller Reiz,
Manches ähnelt hier der….. 

….Schweiz! Riefen die Kleinen aus! War das eine Freude.
Der Nachteil war bloss, dass sie hinterher richtig aufgedreht waren und nicht einschlafen konnten. 

Es folgten Tim und Struppi, Pippi Langstrumpf, Schellenursli, Lessie, die Abenteuer von Petterssohn und Findus, ich kann mich an viele recht gut erinnern. Ganz besonders an eine alte Ausgabe der Bündner Volksmärchen – die las ich lieber nicht vor – sie sind gespickt mit brutalen Wirklichkeitsbildern, auf denen Tiere geschlachtet werden und die Nachbarn aufeinander neidisch sind – das wollten ich im Kinderzimmer nicht haben. 

Vielleicht kann ich mal mit meinen Enkelkindern in die fröhliche Welt dieser Kindergeschichten wieder eintauchen – ich bin vorbereitet!

Immer wieder neue Welten, Erwachsenenalter

Alle Bücher an die ich mich erinnere, führten mich in neue Welten ein, zu neuen Menschen, in neue Gedankenwelten. Ich durfte ihnen auf ihren Lebenswegen zusehen, ihren Träumen und Liebschaften, ohne die Folgen selbst tragen zu müssen. Durch diese vermittelte Erfahrung haben sie mich bereichert. Nabokovs Lolita, Milan Kunderas Unsterblichkeit oder Die Kreutzersonate von Tolstoi sind ein wahrer Genuss. Zu diesen Geschichten kann ich auch jederzeit zurückkehren, da sie zu meiner Wohnungseinrichtung gehören. Gerne las ich auch Biografien von Autoren – Reich Ranicki, Puškin, Dahrendorf.

Mein Leseweg – Die Erkenntnis

Habe ich eingangs gefragt, welchen Zweck es hat, auf den Lesestoff meines Lebens zurückzublicken, kann ich nach dieser Übung sagen:

Das Lesen war stets eine Suche nach einem Stoff, den ich nicht kenne. Den ich brauche, aber nicht kenne.

Das Gelesene ist nun zum Teil meine Lebenserfahrung. Viele Bücher verbinde ich mit Personen, Schulen, Ländern, Mentalitäten und Ideologien. Ich erkenne mit diesem Wissen besser die Konstellationen, in denen ich lebte und mich zurechtfinden musste. Jedes gelesene Werk war eine Entwicklung.

Bücher zogen mich mit der „Echtheit der Menschen“ an. Das, was im Leben nicht sichtbar ist und in meinem Umfeld meistens nicht nachvollziehbar war – der Zusammenhang, warum tun Menschen das was sie tun – das war in den Texten zu finden. Beim Lesen entstand jeweils eine intime Verbindung zwischen den Frauen und Männern aus Buchstaben. Vielfach waren mir ihre geistigen Regungen nicht unbekannt, wenn ja, konnte ich sie nachvollziehen oder ablehnen. In der Romanwelt hielt ich mich gerne auf. 

Ich wählte nie Bücher, in denen es darum ging, wie es ausgeht, wer der Täter war oder was wird zu welchem Zeitpunkt verraten. Meine Abneigung gegenüber Krimis hat sich irgendwie, auf Autopilot eingestellt, von selbst ergeben.

Die Lektüre ist ein wichtiger Faden meiner gesamten Lebensgeschichte; sie bedeutete für mich stets Begegnung mit „echten“ Menschen. So, wie sie in ihrem Inneren für sich selbst sind.

Diesem Faden auf der Spur war ich in eigenen Tiefen unterwegs, erfreute mich an Erinnerungen und entdeckte und benannte ich Zusammenhänge, die in mir schlummerten.

Erst bei der Arbeit, über meinen Lebens-Lesestoff einen Text zu verfassen, hat sich etwas in mir herauskristallisiert: Die Menschen aus Buchstaben waren diejenigen, die mir Einsicht in Ihre Gedanken, Beweggründe und Emotionen gewährten, denn das war in der Äusseren Welt nirgends verfügbar. Die Worte der Fremden berührten in mir jeweils etwas, wovon ich annahm, dass nur ich es in mir tragen würde – ich spürte mich selbst. Auch schilderten sie mir Empfindungen, über die ich noch nie zuvor nachgedacht hatte. Es formte sich ein innerer Menschen in mir. Dieser innerer Mensch tut nicht nur funktionieren, das macht der Äussere. Der Innere beschäftigt sich mit dem Verhalten anderer und mit dem eigenen Erleben. 

Die Bedeutung des Gelesenen zeigt mir: Ich sehne mich nach aufrichtiger Verbundenheit. Mit meinem inneren Menschen und mit anderen. In diesem Punkt Klarheit zu erlangen verdanke ich genau der Auseinandersetzung mit der Aufgabe, über meine Gesamtlektüre zu schreiben. Die Verschriftlichung meiner Lesebiografie erwies sich als inneres Organisieren von Fragmenten zu einem erkennbaren Puzzleteil meines Selbstbildes: Beim Lesen bin ich bei mir selbst. Bei diesem Selbst möchte ich in Zukunft auch in meinem Äusseren Leben öfter sein.

Unter anderem bin ich dabei auf die Idee gekommen, dass ich eine ganz besondere Biografie verfassen muss – meine Porzellan-Geschichte! Da habe ich viel Stoff auf Lager (Scherben ebenfalls).

Die Vorstellung, dass ich einst meinen Enkeln die Bücher vorlesen werde, die schon ihre Papis liebten, lässt in mir Vorfreude aufkommen. Ein solches Wiedererleben wäre eine herrliche Bereicherung meiner Tage.

 


Eintauchen in die eigene Erfahrung

Thema: Eigene Lesebiografie
Textsorte: Rückblick und Spurensuche

Nehmen Sie sich Zeit für einen Rückblick auf die Bücher, die Sie je gelesen haben. Was sagt dieser Lebenslauf über Ihre Interessen und was über Ihren Charakter? 

  • Erstellen Sie eine Liste der Titel, die sie gelesen haben.
  • Erzählen die gelesenen Bücher Geschichten oder sind es eher Sachbücher?
  • Melden sich bei diesen Erinnerungen auch Gefühle?
  • Welche Bedeutung schreiben Sie Ihrem Lesestoff insgesamt zu?

Hier schreibt Miriam Löffel

Dem Einzelnen zugewandt, der Zivilisation eher fern. Ich bin eine Frau mit Eigenschaften und mag es, wenn Menschen ein Lächeln erwidern - ich tue es auch. Die Wahrnehmung für das "Unwichtige" führte mich zum Studium der Geisteswissenschaften; meine Hingabe galt ausserdem lange Zeit auch meinen Söhnen. Die Zerrissenheit zwischen den eigenen Leidenschaften ist das Hauptmotiv meines Lebensfadens. Meine Lebensthemen sind Familie, Rückzug, Worte hinter der Fassade und die Suche nach Verbindung. Das Luxusgut schlechthin ist Stille. Heute orientiere ich mich immer mehr an eigener Erfahrung und bin überzeugt, dass Kleider machen Leute – nicht. Privat und beruflich suche ich nach echten Begegnungen mit echten Menschen. Ich denke, dass Zuwendung und Zuhören die Welt des Einzelnen besser machen, vor allem indem man seine Wertvorstellungen akzeptiert. Ich bin ein psychologisch gebildeter Laie und Biografiearbeit erfüllt mich mit Sinnhaftigkeit. Bin kein Gutmensch, versuche jedoch gut zu sein.