Geschichten werden niemals richtig erlebt,
Alfred Polgar
nur manchmal, sehr selten, richtig erzählt.
Für eine Erzählung ist typisch, dass etwas passiert. Passieren kann etwas, so viel der Stand unserer irdischen Kenntnisse, nur in Raum und Zeit. Ohne Zeit entfaltet sich keine Story, denn erzählt wird, was passiert ist und das hat einen Anfang und ein Ende auch in zeitlicher Hinsicht. Damit ist nicht gemeint, dass wir für das Lesen Zeit benötigen, sondern das, dass etwas nur unter Zeitablauf geschehen kann; vereinfacht: es dauert, bis es so weit ist.
Zur Veranschaulichung: Wenn ich sage, draussen zwitschern Vögel, die Sonne scheint, die Bäume sind grün, unter dem Baum liegt ein Hund – es ist herrlich, ist das keine Erzählung im Sinne einer Story und schon gar nicht spannend. Das ist eine Beschreibung, da passiert nix und kann somit nicht spannend sein. Wenn ich sage, der Hund hat ein Kind gebissen, ist es eine Erzählung. Im Sinne der Erzähltheorie ist diese minimal, aber etwas ist passiert – die Endsituation ist eine andere als zu Beginn. Wir brauchen uns jetzt nicht das blutende Kind vorzustellen (hier geht es um die Prinzipien der Narration). Das was passiert ist, konnte nur an einem Ort passieren, auch wenn ich diesen nicht benenne. Und natürlich hat die Handlung etwas gedauert, extrem kurz zwar, aber es geschah in der Zeit. Ich denke, da sind wir uns einig, oder?
Endlich komme ich zum Format der Kurzgeschichte (versuche mich dabei kurz zu fassen). In einer solchen Textsorte also ist der Inhalt sehr stark verdichtet, komprimiert. Bitte, denken Sie jetzt nicht an Textnachrichten wie SMS. Das ist eine andere Galaxie – dort können auch sechs ganze Worte ‚krass null Inhalt haben voll nice!!! Hier bleiben wir in Zeit-Raum-Koordinaten von Menschen, die im letzten Jahrhundert zur Schule gegangen sind.
Mir selbst ist mal was passiert, das extrem kurz dauerte, aber in mir enorm viel entfaltete: Mit den Angehörigen in Davos (Luxus-Chalet der Schwiegereltern, überall Hundehaare, Ben ist 14 Monate alt und lernt gerade gehen). Der Kleine sitzt auf dem Teppich, lächelt und schaut sich um, denn er will selber aufstehen. Das macht er diese Tage mit charmantem Ehrgeiz und will nicht, dass ihm jemand dabei hilft. Da kommt die Hündin der Schwiegermama, positioniert sich dicht quer vor ihm, als gäbe es da was zu bewachen, ich bin auf der Hut. Das Baby hebt beide Arme, krallt sich in das Fell der Schulter und der Flanke des stattlichen Ordnungshüters ein und zieht sich hoch! Mein Sohn strahlt vor Glück, schaut mich an und – da ertönt aus der offenen Küche seine Omama: Pass auf, dass der Säugling den Hund nicht beisst, gell!?
Die Blitzgeschichte hier wäre dann: Ein einjähriges Kind beisst Rottweiler. So was wäre inhaltlich DIE Story und hätte die Schlagkraft von Breaking News. Oder etwas ausführlicher, mit mehr Tiefgang: Ein einjähriger beisst Omas Rottweiler, sie tobt. Aber es geschah nichts dergleichen und in gemeinsamen Winterferien – des familiären Friedens willen – machte ich mir darüber keine weiteren Gedanken. Das hätte nicht gut geendet. Erst jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren erlaube, ja ich gönne es mir, das Ganze in Worte zu fassen. Ohnehin hat es inzwischen nicht gut geendet. Damals übrigens, bemerkte den Vorfall auch mein Mann und sagte zu mir leise: Es sind meine Eltern und ich habe keine anderen. Fünfundzwanzig Jahre danach und mindestens fünf nach der letzten Hemmschwelle, antworte ich ihm laut: Du arme, wohlhabende Sau!
Das wäre so in groben Zügen die Geschichte, die diese Ultra-Short-Story in sich trägt. Natürlich hat auch die Grossmutter, die so was von sich gibt, ihre eigene Geschichte, aber der wollen wir jetzt nicht nachgehen; hier wollen wir was lernen und nicht weinen. Übrigens sagte schon Orson Wells, dass das, ob eine Geschichte ein Happy End hat oder ein trauriges, nur davon abhängig ist, wo sie mit dem Erzählen aufhören.


Die Kriterien für ein Erzählen – Handlung an Zeit und Raum gebunden – müssen jedoch nicht immer erfüllt sein, damit eine Geschichte uns packt. Sie kennen die Redewendung: Ihr Gesicht spricht Bände. Ehm, wie denn? Denken wir hier nicht an ein Video, sondern an ein Foto. Ihr Gesicht auf dem Foto spricht Bände. Raum nicht definiert und nicht relevant, Zeitkomponente nicht möglich – ein Foto ist eben ein Augenblick. Dennoch spricht ES Bände. Bloss, wer spricht eigentlich? Sie haben es schon gemerkt: die Bände „spricht“ unser Inneres. Die Erzählung findet in uns selbst statt. Sie wird nicht im Aussen erzählt. Abgeleitet von den Raum-Zeit Überlegungen nenne ich das die Relativitätstheorie des Verstehens. Es hängt eben vom Weltbild und der Erfahrung jedes einzelnen ab, welche Geschichte sein Inneres über ein Gesicht erzählt. Der Leser ist somit Mitautor der Geschichte, die er wahrnimmt. Sind wir uns da auch einig?
Auch hier, zur Verdeutlichung, ein Beispiel. Es geht um eine Ultra-Kurzgeschichte, deren Inhalt mich seit Jahren immer wieder berührt und auch ein wenig zu einem Masstab für mein Schreiben geworden ist: Ernst Hemingway wird die Begebenheit zugeschrieben, dass er sich von einem Kritiker seiner langen Romane provozieren liess (sinngemäss: Sie benötigen 400 Seiten um etwas zu sagen). Dieser schloss eine Wette ab, eine ganze Geschichte in nur sechs Wörtern zu schreiben. Hier ist sie:
For sale: baby shoes, never worn.
Hemingway
Zu Deutsch Zu verkaufen: Babyschuhe, nie getragen. Ob diese Worte tatsächlich Hemingway schrieb, ist umstritten, da bereits 1910 (da war er erst 10 Jahre alt) eine Zeitung einen Artikel mit dem Titel schrieb: „Die Tragödie des Todes eines Babys wird beim Verkauf von Kleidung aufgedeckt“. Quelle Wikipedia
2021. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn heute auf Ebay jemand nie getragene Babyschuhe verkauft? Am ehesten „falsch bestellt“, „Geschenk von Schwiegermutter“, „Konsum lässt grüssen“, aber wohl kaum eine Tragödie, wie es vor hundert Jahren der Fall war. Da sehen wir den Unterschied: Wer diese Geschichte im letzten Jahrhundert las, fand es tragisch. Wer es heute liest, feiert die Tugend des Second-Hand. Weil der Leser heute in einer anderen Welt lebt, hat er zum gesagten offensichtlich einen anderen Bezug. In seiner Vorstellung entstehen andere Bilder, beziehungsweise Begründungen, wie bei jemandem aus einer anderen Zeit. Beim biografischen Schreiben ist es sehr nützlich, die Zeit, das Zeitalter vor Augen zu haben, wenn wir über andere Menschen berichten. Fangen wir den Zeitgeist richtig ein, sind ihre Handlungen und die Überlegungen unter Umständen besser nachvollziehbar und in der Folge überzeugend.
Und wie wäre es mit der eigenen langen Geschichte, einer Autobiografie in nur sechs Worten? Diese Aufgabe nahm ich heute mit mir auf meinen Spaziergang. Zwischen den Feldern, allein und in Bewegung – so kann ich an mich selbst anknüpfen und mich konsultieren. Das mache ich gerne. Herausgekommen ist das da:
Sie fand ihre Sprache – ihren Anschluss.
Meine Biografie in sechs Worten
Ich denke, mit einem so gelungenen Leben würden sich viele glücklich schätzen.

Eintauchen in die eigene Erfahrung
Textsorte: Flash fiction – Blitzgeschichte
Kürzer als ein Tweet – Leser ist Mitautor
Das Leben bietet vielerlei Geschichten in wenigen Worten. Welche erzählt Ihr innerer Dichter zu diesen Worten?
- Der Mann kommt endlich zur Vernunft.
- Die Frau des Sherpas hat kein Telefon.
Kehren wir das Verfahren um:
- Welche Kurzgeschichte schrieb Ihr Leben?
- Ihre Biografie in sechs Worten lautet:
Das Leben mit Worten nicht mehr als 6 davon zu um- und beschreiben, ist wahrlich gezwungen nicht ausschweifend zu sein. – Lebendig und Liebend, erforschend – heilend Reisen -, ist meine Version davon.
Herzlichen Dank nach Meienfeld!